Kommentar til Thorvaldsen und protestantische Ethik
Es scheint möglich zu sein, dass protestantische Theologie durch J.J. Winckelmanns Vermittlung schon die anthropologische Grundlage des Klassizismus von 18. Jh. beeinflusste. So, entsprechend lutherischer Glaubenslehre (im Gegensatz zum katholisch-scholastischen), ist die menschliche Natur an und für sich vollkommen und nur der Sündenfall hob diese Vollkommenheit auf, indem er den Menschen in den Zustand des nicht nur geistigen, sondern auch physischen Verfalls gebracht hat (naturalia sunt corrupta). Katholisch-scholastische Theologie seinerseits lehrt, dass Vollkommenheit erster Menschen im Paradies (status originalis) nicht von ihrer Natur, die unvollkommen war, sondern von der übermenschlichen Gabe (donum superadditum) bedingt wurde, die der Sündenfall raubte, während unvollkommene Natur des Menschen unverändert blieb (naturalia manserunt integra). (Lauri Haikola: Studien zu Luther und zum Luthertum, Uppsala-Wiesbaden 1958, S. 14; Ferdinand Christian Baur: Der Gegensatz des Katholizismus und Protestantismus nach den Principien und Hauptdogmen der beiden Lehrbegriffe, Tübingen 1834, S. 21.).
Jene dem Protestantismus eigene meist hohe Wertschätzung der Menschennatur konnte von Winckelmann für die Kunst durch seine Schriften aktualisiert werden. Ungeachtet dessen dass Winckelmanns religiöse Ansichten fern von jeder Form des Christentums waren, scheint es höchst wahrscheinlich zu sein, dass sein Gedächtnis eine Jugenderinnerung bewahrt hat, die seine anthropologischen Einstellungen beeinflussen konnte. Und zwar, noch als Fünfzehnjähriger nahm er teil an einem Schuldisput, dessen Hauptfrage war: Ob das Ebenbild Gottes „anerschaffen“ oder als übernatürliche Gottesgabe „hinzugetan“ sei (Carl Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen, Leipzig 1898. Bd. 1, S. 26.
Sidst opdateret 28.06.2018