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β) Weiter schon geht die Situation zur Bestimmtheit fort, wenn sie irgend einen besonderen Zweck in seiner in sich fertigen Ausführung, ein Thun, das in Verhältnis zum Aeußeren steht, andeutet und den in sich selbstständigen Gehalt innerhalb solcher Bestimmtheit ausdrückt. Auch dies sind Aeußerungen, durch welche die Ruhe und heitere Seligkeit der Gestalten nicht getrübt wird, sondern die selber nur als eine Folge und bestimmte Weise dieser Heiterkeit erscheinen. Auch in solchen Erfindungen waren die Griechen höchst sinnvoll und reich. Zur Unbefangenheit der Situationen gehört hier, daß sie nicht ein Thun enthalten, welches bloß als der Anfang einer That erscheint, so daß daraus noch weitere Verwicklungen und Gegensätze entspringen müßten, sondern daß sich die ganze Bestimmtheit in diesem Thun als abgeschlossen zeigt. So faßt man z. B. die Situation des Apoll von Belvedere so auf, daß Apollo siegesgewiß, nachdem er den Python mit dem Pfeile getötet, in seiner Hoheit zürnend vorschreitet. Diese Situation hat schon nicht mehr die grandiose Einfachheit der früheren griechischen Skulptur, welche die Ruhe und Kindlichkeit der Götter durch unbedeutendere Aeußerungen kenntlich machte: Venus z. B., dem Bade entsteigend, ihrer Macht bewußt, ruhig hinausblickend; Faune und Satyrn in spielenden Situationen, welche als Situationen nichts Weiteres sollen und wollen; der Satyr z. B., der den jungen Bachus im Arme hält und das Kind lächelnd mit unendlicher Süße und Anmuth betrachtet; Amor in den mannigfaltigsten ähnlichen unbefangenen Thätigkeiten, – das sind alles Beispiele dieser Art der Situation. Wird das Thun dagegen konkreter, so ist solche verwickeltere Situation, für die Skulpturdarstellung der griechischen Götter als selbstständiger Mächte wenigstens, unzweckmäßiger, weil dann die reine Allgemeinheit des individuellen Gottes durch die gehäufte Particularität seines bestimmten Thuns nicht so hindurchzuscheinen vermag. Der Merkur z. B. von Pigalle, welcher als ein Geschenk Ludwig XV in Sanssouci aufgestellt ist, befestigt sich soeben die Flügelsohlen. Dies ist ein durchaus harmloses Geschäft; der Merkur von Thorwaldsen dagegen hat eine für die Skulptur fast allzu complicirte Situation. Er paßt nämlich, soeben seine Flöte fortlegend, dem Marsyas auf; listig blickt er auf ihn hin, lauernd daß er ihn tödten könne, indem er heimtückisch nach dem versteckten Dolche greift. Umgekehrt ist zwar, um noch eines neuern Kunstwerks zu erwähnen, die Sandalenbinderin von Rudolph Schadow in der ähnlichen einfachen Beschäftigung Merkurs begriffen, hier aber behält die Harmlosigkeit nicht mehr das gleiche Interesse, das mit ihr verknüpft ist, wenn sich ein Gott in solcher Unbefangenheit darstellt. Wenn ein Mädchen sich die Sandalen bindet oder spinnt, so zeigt sich darin nichts als eben dieß Binden und Spinnen, das für sich bedeutungslos und unwichtig ist.
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