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Sven-Aage Jørgensen: ‘Baggesen zwischen Holger Danske und Hermann dem Cherusker – Germanismus und Cosmopolitische Ausschweifungen’, in: Meddelelser fra Thorvaldsens Museum’ 1997, p. 18-28.
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Im Juli 1789, im Revolutionsjahr besuchte der dänische Dichter Jens Baggesen (1764-1826) auf einer Kur- und Erholungsreise den “Hermannsberg” in Westfalen, im Teutoburger Wald (Abb. 8). In seiner Reiseschilderung Das LabyrinthI ist der Besuch des geschichtsträchtigen Ortes glänzend inszeniert, die Natur gibt die perfekte Kulisse der Vergangenheit ab:
“Die Arminiusburg, wie sie gewöhnlich genannt wird, erhebt sich [ ... ] über der heiligen niedrigeren Gegend, die Deutschlands Hannibal mit Römerblut düngte. [ ... ] Der ganze Gipfel ist mit einem Dickigt umkränzt; rings um diesen aber hat man eine äußerst romantische, an die Vorzeit erinnernde Aussicht. Ein feyerliches Grausen begleitete jeden meiner Schritte auf diesem classsischen Erdenflecke. Das Gewölk zog finster, und immer finsterer über die dunkeln Wälder herauf, und der Donner tosete rings um die ferneren Berge her. Von Höhe zu Höhe, und von Forst zu Forst, hallte in meiner schaudernden Phantasie der Ausruf des untröstbaren Erdenbeherrschers: “Varus! Varus! Gib mir meine Legionen wieder!” (4, 166f)
Hermann der Cherusker oder Arminius war seit der Wiederentdekung des Tacitus in der frühen Neuzeit Sinnbild deutscher Tugend und Tapferkeit geworden – sowie Sinnbild des Kampfes gegen die Zersplitterung der Nation und für nationale Einheit. In dem Arminiusdrama Justus Mösers (1720-94), das
1749 erschien, heißt es:
[ ... ] “ist es nicht Deutschlands Glücke
Wenn unter einem Haupt dies weite Reich vereint
Inwendig ruhig blüht [ ... ] Du hast es selbst
erfahren,
Wie Neid und Zwiespalt uns ein fremdes Joch
gebaren;
[ ... ] Ein Fürst ist uns verhaßt; allein die Tyrannei
Von hundert kleinen nicht, die auf einander
wütenII.
Abb. 8. Das nationalistische 19. Jahrhundert errichtete im Teutoburger Wald das monumentale Hermannsdenkmal von E. v. Bandel. Es wurde 1838 angefangen, 1875 eingeweiht. Das 26 m hohe Standbild steht auf einem 30,7 m hohem Sockel.
Mösers Klage hatte seinen Hintergrund in der Zersplitterung des deutschen Reiches, die in der Auflehnung eines deutschen Reichsfürsten gegen den kaiserlichen Thron kraß zutagetrat, in den Kriegen zwischen Berlin und Wien um Schlesien, aus denen Preußen als neue europäische Großmacht hervorging. Möser beschwört einen deutschen Reichspatriotismus, der zwar einen sächsischen, preußischen oder bayrischen keineswegs verneint, der sich aber auf das Heilige römische Reich deutscher Nation als das Höhere, Übergeordnete bezieht.
Dänemark war nicht zersplittert; der Gesamtstaat umfaßte dagegen außer allen Dänen auch Norweger und Deutsche. Was kann der Einigungsheld Hermann der Cherusker den Dänen und insbesondere einem Dänen bedeuten, der den Nationalhelden Ogier le Danois, Holger den Dänen vor wenigen Monaten in einer Oper gefeiert hatte? Und doch beschwört Baggesen diese Gestalt auf, zitiert dabei aber nicht das Drama des reichspatriotischen Möser, sondern Friedrich Gottlieb Klopstocks (1724-1803) Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne (1769), das sich als eine Art Oratorium germanischstreitbaren Inhaltes beschreiben läßt. Das war insofern verständlich, als Baggesen Klopstock auf seiner Reise getroffen hatte, vor allem hatte Klopstock aber rund 20 Jahre in Kopenhagen gewohnt und dort sein patriotisches deutsches Bardiet gedichtet.
Klopstock war Ende der sechziger Jahre nicht mehr bloß der fromme Sänger, der von Friedrich V. bzw. J. H. E. Bernstorff mit der einzigen Verpflichtung einberufen worden war, sein großes christliches Gedicht Der Messias zu vollenden, sondern schlug auch stark nationale T öne an. In einem Vaterlandslied betitelten Gedicht aus dem Jahre 1770, das er seiner späteren Braut in den Mund legt, heißt es:
“Ich bin ein deutsches Mädchen!
Mein Aug, ist blau, und sanft mein Blick,
Ich hab’ ein Herz,
Das edel ist und stolz und gut.
Ich bin ein deutsches Mädchen!
Zorn blickt mein blaues Aug’ auf Den,
Es haßt mein Herz
Den, der sein Vaterland verkennt.
Ich bin ein deutsches Mädchen!
Erköre mir kein ander Land
Zum Vaterland,
Wär, mir auch frei die große Wahl. [ ... ]
Ich bin ein deutsches Mädchen’
Mein gutes, edles, stolzes Herz
Schlägt laut empor
Beim süßen Namen: Vaterland’
So schlägt mir‘s einst beim Namen
Des Jünglings nur, der stolz wie ich
Aufs Vaterland,
Gut, edel ist, ein DeutscherIII ist”
In der Hauptstadt eines Landes, das Klopstock sich 1751 – allerdings aus finanziellen Gründen – wenn auch nicht zum Vaterland, so doch schon zum ständigen Wohnsitz erkoren hatte, muß dieser Ton provozierend geklungen haben.
Aus dem deutsch-germanischen Bardiet Klopstocks übersetzt Baggesen 14 Strophen, die, vom grollenden Gewitter unterstützt, die Vergangenheit des düsteren Ortes in einer rauschenden Vision heraufbeschwören: der Eichenwald verwandelt sich in Wodans Schild, Hermann begegnet Thusnelda, die Stimmung vermitteln ekstatische Verse wie:
“Ha, ihr Cherusker! Ihr Katten! Ihr Marsen,
Ihr Semnonen!
Ihr festlichen Namen des Kriegsgesangs!
Ihr Bructerer! Ihr Warner! Ihr Gothonen!
Ihr Lewover!
Ihr festlichen Namen des Kriegsgesangs!
[ . . . ]
“Wodan , Wodan! Römerblut, Wodan!
Wodan, Wodan! Römerschild, Wodan!
Wodan, Wodan! Adler, Wodan!
Wodan! Wodan, Tyrannenblut
Wegen der heiligen Freiheit!
Blut, wegen der heiligen Freiheit Blut der Tyrannen!
Wodan! Wodan!
Warum lebt sich Baggesen völlig in diesen stammelnden Blutrausch ein? Wozu versetzt er sich in diese blutrünstige Ekstase, denn Baggesen war ein nervöser, im klinischen Sinne wohl gar hysterischer Dichter, der Pyrmont wegen seiner schwachen Gesundheit, seiner ewigen Krämpfe und manchmal lähmender Lethargie besuchte? Warum fährt er von Pyrmont aus dreimal auf den Berg, in Gewitter, Regen und Sonnenschein, jedesmal entzückt? Im Chor der Barden macht der moderne, damals von Wieland inspirierte Däne doch eine etwas sonderbare FigurIV.
Die Strophen, die er selbst hinzudichtet, geben seine Antwort – und die Natur klärt sich dabei auf: “Die Wolken zertheilten sich, sie. schwanden zwischen den Bergen, und die Sonne brach hervor in Alles bestrahlendem Glanz”. (4,180). Wiederum zitiere ich zwei charakteristische Strophen:
“Du Jacobi! du Herder! du Sulzer! du Engel!
Ihr festlichen Namen für Jubelgesang!
Du Klopstock! du Wieland! du Schiller! du Voß!
Ihr festlichen Namen für Jubelgesang.” [ ... ] (4,177)
Panegyrisch und devot fährt Baggesen fort:
“Deutsche, edle Deutsche
Hier auf dem Gipfel des Hermannsberges,
Im Schatten von Hermanns Eiche!
Empfangt mein Lob, meine Bewundrung,
meinen segnenden Dank!
Von Germaniens Wäldern ging die Freyheit aus!
Ging aus mit reinerem Glauben, mit tieferem
Wissen,
Mit Fackeln, die Himmel und Erden,
Und die Gottheit im Menschen erleuchteten,
die Aufklärung,
aus! [ .... ]
Der Bruder achte seinen Bruder im Staate!
Der Staat achte seinen Nachbarstaat!
Der Bruder liebe seinen Bruder im Lande!
Das Land liebe sein Nachbarland.”
Nach der letzten Strophe stürzt ihm sein hochadliger deutsch-dänischer Freund und Reisebegleiter Moltke in die Arme: “So umarmen Dännemark und Deutschland – so umarmen Nationen einander”. (4,178 f)
Baggesen kehrt in den zusätzlichen Strophen mit allem Nachdruck in das 18. Jahrhundert zurück, das der Barde Klopstock verließ, dichtet ein pathetisches Loblied auf die deutsche Kultur dieses Jahrhunderts, das dänische Kreise in Kopenhagen mit sehr gemischten Gefühlen gelesen haben werden. Er läßt Hermanns Kampf für die Freiheit der Germanen die Voraussetzung für die später aufblühende, gemeinsame protestantische, transalpine KulturV von Luther bis Lessing, Klopstock und Wieland werden, an der Deutsche und Dänen als Nachbarn und Brüder im Staate teilhaben – der in Dänemark wohnende Dichter Stolberg und der Komponist Schulz werden in den ‘Jubelgesängen’ namentlich genannt. Die folgenden Seiten bringen vor dem Hintergrund dieser Gesamtschau stark emotionale Reflexionen über das Verhältnis zwischen Patriotismus und Kosmopolitismus – und das nicht von ungefähr. Zuerst muß an ein paar geschichtliche Sachverhalte erinnert werden.
Die deutsche Patriotismusdiskussion spielte sich, wie oben angedeutet wurde, in einem zersplitterten Reich ab: der Patriotismus konnte sich auf die eigene Stadt, das eigene Fürstentum – oder als nationaler Patriotismus auf das Reich beziehen. In Dänemark fand die Patriotismusdiskussion auf dem Boden des von einem Fürsten regierten multinationalen Gesamtstaates statt. Ein dänischer “Reichspatriotismuß” mußte folglich übernational sein, ein im strikten Sinne dänischer Patriotismus oder Nationalismus mußte den Bestand des Reiches gefährden. In einer mit Fehlern behafteten Volkszählung aus dem Jahre 1769 werden folgende Zahlen angegeben: Dänemark 785 590 Einwohner, Norwegen 723 141, Schleswig 243 605, Holstein (königliche Anteile) 134 665, Oldenburg 79 071, Island 46 201, Färöer 4 754. Der Gesamtstaat umfaßte also rund 2 Millionen Einwohner, von denen wohl etwa jeder fünfte deutschsprachig war. In der Verwaltung und in der Politik spielte das deutsche Element besonders seit der Einführung des vom dänischen Adel abgelehnten Absolutismus eine proportional weit größere Rolle, weil der König v.a. deutsche Adelige in seinen Dienst nahm, z. B. die Moltke, Stolberg und Bernstorff, die dann im Land ansäßig wurden. Kulturell bedeutete die Politik des älteren Bernstorff eine Stärkung des deutschen Elements, da sich um Klopstock ein ganzer ‘Kopenhagener Kreis’ deutscher Intellektueller versammelte.
Zur gleichen Zeit emanzipierten sich die dänischen Bürger und Bürgerlichen und fühlten sich nunmehr qualifiziert, die Stellen in der Administration zu übernehmen, die vorwiegend von deutschen und holsteinischen Adligen besetzt gewesen waren. Diese bürgerlichen Kreise verhielten sich auch zu der elitären, quasi a-nationalen Mäzenatspolitik des älteren Bernstorff kritisch, die sein Sekretär, der glänzende Essayist Helfrich Peter Sturz (1736-1779) in seinen Erinnerungen aus dem Leben des Grafen Johann Hartwig Ernst von Bernstorff (1777) energisch verteidigte, indem er Bernstorffs (1712-1772) Kritikern Konservatismus und Selbstzufriedenheit vorwarfVI.
Mit der Entlassung Bernstorffs im Jahre 1770 löste sich der Kopenhagener Kreis auf, nach dem Sturz Struensees 1772 setzte sich eine Zeitlang die schon lange vorhandene national dänische Opposition mit dem Indigenatsgesetz durch, das – wie auch Klopstock in dem angeführten Gedicht vom deutschen Mädchen – Vaterland als Land der Geburt definierte. Bernstorff hatte klassisch kosmopolitisch mit “ubi bene, ibi patria” argumentiert und wolllte das Gute dabei nicht nur als dasjenige, was man genießt, sondern auch als das, was man wirken kann, verstanden haben.
Abb. 9. Christian Horneman (1765-1844): Jens Immanuel Baggesen, 1813-14. Pastel. Universitätsbibliothek Kiel.
Mit dem Segen des Hofes instrumentalisierte das Kopenhagener Bürgertum in semem Kampf um politischen Einfluß das Nationalpatriotische; dies mußte aber auf längere Sicht Spannungen zwischen den deutschen, dänischen und norwegischen Bevölkerungsgruppen innerhalb des Vielvölkerstaates hervorrufen bzw. verschärfen. Es wurde deshalb in den folgenden Jahren ein auf die Person des Landesvaters bezogener über- oder nationaler Patriotismus staatlicherseits propagiert und gefördert – das Indigenatsgesetz bezog sich auf alle Landesteile. Dänen, Norweger und Holsteiner waren alle des Königs liebe Untertanen, die sprachlichen Unterschiede wurden in den Schulbüchern und in nationalen Festakten heruntergespieltVII.
Die sozialen und nationalen Aspirationen der Kopenhagener Bürgerlichen bestanden jedoch weiter, und es fiel diesen dänischen Landeskindern manchmal schwer, einen Unterschied zwischen den Holsteinern und den einberufenen Deutschen zu erkennen, die immer noch als Offiziere, Gelehrte und Beamte schon im Lande lebten oder ins Land geholt wurden. Ein Bernstorff war nach dem nationalen Zwischenspiel Guldberg wieder an der Macht, andere Familien wie Stolberg und Schimmelmann spielten eine Rolle und verbanden sich mit den Reventlow und anderen holsteinisch-dänischen Adelsgeschlechtern. Die Spannungen entluden sich ab und zu, eine erste verbitterte Entladung war die sogenannte ‘Holger’ – oder ‘Deutschenfehde’, die durch ein Opernlibretto von Baggesen veranlaßt wurdeVIII.
Er wäre wohl noch ärger mitgenommen worden, wenn er nicht ein paar Monate nach ihrem Ausbruch die hier beschriebene Reise angetreten hätte, die ihm der Prinz von Augustenburg und andere adlige Gönner ermöglichten. Er entzog sich auf diese Weise den fortgesetzten Auseinandersetzungen in Kopenhagen, aber notiert unter “Göttingen”, als er wiederum keine Post vorfindet, mit Erbitterung: “Ich möchte indeß wissen, ob dieses allgemeine Schweigen meiner Freunde, auch eine Frucht jener unglückseligen Oper ist? – ob sie wirklich Allen die Überzeugung haben, daß der Verfasser, der Übersetzer eines solchen so übersetzten Schauspiels seine sämtlichen Würden und Herrlichkeiten als Mensch und Bürger verwirkt hat, daß der Verfasser eines solchen Schauspiels keine Antwort auf irgendeinen Brief bekommen sollte, daß er nicht nur expatriiert, was bereits geschehen ist, sondern gar exeuropäiert werden müßte?”
Baggesen gehörte nicht zum Kopenhagener Bürgertum, er kam wie Hans Christian Andersen aus ganz ärmlicher Familie in der Provinz (Abb. 9) . Gönner hatten ihm den Besuch einer Lateinschule ermöglicht, in Kopenhagen verschafften ihm seine glänzende Begabung und dichterischen Talente bald den Zugang zu Kreisen der bürgerlichen Intelligenz und zu den adligen Salons. Baggesen mußte Unterstützung haben, mußte Mäzene finden – und fand sie. Er wurde von Gutshof zu Gutshof herumgereicht, wurde mit Mitgliedern des Bernstorff- und des alten Klopstockreises bekannt und sorgte geflissentlich dafür, daß auch die Leser seiner Reisebeschreibung über seinen vertrauten Umgang mit der gesellschaftlichen und geistigen Elite genauestens unterrichtet werden. Die Reiseschilderung widmet er seinem Gönner und hervorragenden Vertreter der Kultur des Gesamtstaates, dem Prinzen Friedrich August (1765-1814), Herzog von Augustenburg und Schwager des Königs. Er spielte auch kulturpolitisch in Kopenhagen eine wichtige Rolle und unterstützte übrigens zusammen mit dem Grafen Ernst Heinrich Schimmelmann auf Baggesens Anregung drei Jahre lang Schiller mit je 1000 Talern, wofür dieser sich mit der Schrift ÜBER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG DES MENSCHEN IN EINER REIHE VON BRIEFEN (1795) bedankte. Ihr war ein leider bei dem Brand des Schlosses Christiansborg 1794 zugrundegegangener Briefwechsel mit dem Prinzen über dieses Thema vorausgegangen.
Abb. 10. Nikolai Abraham Abildgaard (1743-1809): Holger Danske (Holger der Däne). Bleistift, Feder und Tinte. 125 X 148 mm. Kupferstich-Kabinett, Statens Museum for Kunst, Kopenhagen. Nr. Td 536.9. Die zeitgenössische Zeichnung Abildgaards stellt den dänischen Nationalhelden zwar rittermäßig gepanzert, aber in lässig-eleganter Positur dar. Eine Beziehung zur Oper oder zur Fehde ist nicht belegt.
Baggesen war in allen poetischen Satteln gerecht. Er war schwärmerisch und empfindsam, verfaßte auch gekonnt Frivoles und wurde u.a. deshalb als ein dänischer Wieland bezeichnet – das deutsche Urbild galt in den Augen vieler Kritiker als “chamäleonenhaft”. Während Wieland seinen Stolz als Bürger einer freien Reichsstadt auch am Weimarer Hof herauskehren konnte, war Baggesen ein “freischwebender Intellektueller” :
Er war weder durch Herkunft und familäre Bindungen noch durch Erziehung den Normen und Zielen des nationalen Kopenhagener Bürgertums verpflichet. Er produzierte allerdings keine konservative Ideologie für seine adligen Gönner, aber sie wollten auch keine; sie befürworteten vielmehr die Bauernbefreiung und standen positiv zu den Anfängen der Französischen Revolution. Baggesen konnte den kosmopolitischen, weltbürgerlichen Philanthropismus seiner Mäzene sowie ihre elitäre, übernationale europäische Kultur mit Verve und Überzeugung vertreten – und als Künstler unbefangen und artistisch auch unbürgerliche, höfische Gattungen pflegen. Das ‘Deutsche’ und das ‘Höfische’ waren bei der ‘Holger-Fehde’ auslösende Momente (Abb. 10).
Baggesen hatte das Libretto Holger Danske für den in Lübeck geborenen Musiker und Komponisten F. L. A. Kunzen (1761-1817) geschrieben. Die Uraufführung fand am 31. März 1789 im Königlichen Theater statt. Zwei Monate später 1789 trat Baggesen überstürzt seine Reise an, im Oktober verließ Kunzen betrübt und enttäuscht Kopenhagen, um jedoch 1795 als Hofkapellmeister zurückzukehren. Was war geschehen, denn die erste Aufführung war ein Erfolg?
Die bürgerliche dänische Kritik hatte sich formiert. Mit ästhetisch bornierten Argumenten wurde die Oper als Gattung wegen ihrer ‘Unnatur’, aber auch wegen ihrer Kostspieligkeit angegriffen und in ihrer politischen Funktion mit den römischen Zirkusspielen der Kaiserzeit verglichen. Noch härter trafen die moralischen und nationalen Vorwürfe: Baggesen hätte nicht Wielands französischen Hüon mit dem dänischen Nationalhelden auswechseln dürfen, so daß dieser Inbegriff des Dänenturns auf der Bühne nicht nur “tirilieren”, sondern auch in den gewagten Wielandschen Verführungs szenen auftreten mußte. Der biedere Rezensent, Professor Knud Lyne Rahbek wundert sich sehr suggestiv darüber, daß die Zensur hier nicht eingegriffen habe.
Baggesen hatte mit dem Libretto für diese Oper in den Augen der Kopenhagener Bürger kulturpolitisch die Partei der ‘Deutschen’ ergriffen. Vergebens warnte der deutsch geborene, aber dänisch schreibende Johann Clemens Tode (1736-1806), der außerdem den gattungsmäßigen Unterschied von Oper und Schauspiel hervorhob, vor “patriotischem Fieber” und davor, daß man sich aus Neid auf das gelungene Werk “patriotifizieren” lasse, aber der literarische Streit wurde immer nationaler. Als das Libretto von dem mit Baggesen befreundeten Kieler Professor Carl Friedrich Cramer (1752-1807) ins Deutsche übersetzt, Wieland gewidmet und der Autor in der Vorrede über den großen, ernsten Vorromantiker, Oden- und Tragödiendichter Johannes Ewald (1743-1781) gestellt wurde, war man entrüstet. Der Kritiker und Dichter P. A. Heiberg (1758-1841), der später wegen seiner positiven Haltung zur Französischen Revolution des Landes verwiesen wurde, reagierte mit der recht witzigen Parodie Holger Tydske (Holger der Deutsche), deutsche Kreise konterten mit Ausrufungen veranlaßt durch Holger Danske und Holger Tydske. Auch in dieser Schrift wird der Streit auf den Neid des dänischen Mittelmaßes zurückgeführt, das aus dem hundertprozentigen, aber eben genialen Dänen Baggesen einen Deutschen mache, um ihn angreifen zu können. Instrumentalisierten die dänischen Kritiker das Nationale, um den besseren Dichter zu treffen – oder war Baggesen national unzuverlässig ? Jedenfalls war er nach dem Tode Ewalds der begabteste dänische Dichter, verstand sich als dänischer Dichter mit einem dänischen Publikum, das er nicht verlieren möchte. Die Angriffe schmerzten, die Schützenhilfe C. F. Cramers war so ungeschickt, daß er sich davon distanzieren mußte.
Baggesens eigentliche Antwort auf die Vorwürfe ist im ersten Teil seiner Reisebeschreibung enthalten. Schon das bis zum Hermannsberg von ihm ‘erfahrene’ Stück Welt belegt, wie ihn die in seinen Augen schiefe Fragestellung der patriotischen Kopenhagener Kritik quält, aber der Bezug auf die Streitfrage, die in Kopenhagen bald wichtiger als die ästhetische geworden war, ist durch die sternisierende Mischung von Subjektivem und Objektivem in der im damaligen Sinne des Begriffes ‘humoristischen’ Reiseschilderung geschickt verpackt. Er wird erst am rechten Ort, auf dem Hermannsberg durch den suggestiven Untertitel des Kapitels: “Germanismus; Cosmopolitische Ausschweifungen; Traum vom Nationaleinverständniß” klar thematisiert. Sonst berührt Baggesen den Streit um die Oper in der Reiseschilderung nur ein paarmal, obwohl er sicherlich auf der realen Reise lebhaft diskutiert wurde, denn sein Reisebegleiter war zu Anfang niemand anders als sein Übersetzer und gelegentlich übereifriger Mitstreiter Cramer. Das deutsch-dänische Verhältnis kommt aber immer wieder wie selbstverständlich zur Sprache, weil er durch den deutschsprachigen Teil des Gesamtstaates fährt. Ein paar Beispiele:
Bei der Ankunft in Kiel werden die holsteinischen Bauern aus der Sicht des psychosomatisch leidenden empfindsamen Reisenden auf einmal humor- und neidvoll als kräftigere, gesündere Brüder und die Bäuerinneren als hübschere Schwestern der Dänen jenseits der Eider bezeichnet – C. F. Cramer widerspricht in einer Anmerkung und hebt die hübschen Seeländerinnen hervor. In launiger Manier heißt es dann über die Universitätsstadt: “Alles, was ich Ihnen von den Studenten [...] sagen kann, ist bald gesagt: Sie scheinen sich mehr in Stiefeln als in Betrachtungen zu vertiefen. (Im dänischen Original: Folianten.SAI) Das soll der Fall auf den meisten Universitäten seyn. Bey unserer daheim, geht man hierin, wie in Allem, den Mittelweg und vertieft sich weder in Stiefeln noch in Betrachtungen.” (2,53) Sein damaliges Publikum wußte, was hinter diesem Witz steckte. Er spielt auf den öffentlichen Streit zwischen C. F. Cramer und dem Kopenhagener Theologen A. C. Hviid an, der in einem 1787 veröffentlichten Tagebuch einer Reise durch Deutschland, Italien, Frankreich und Holland die schwärmerischen, sich als Genies oder “seraphische Contemplanten” gebarenden Kieler Studenten und die langweiligen Vorlesungen Cramers kritisiert hatte. Außerdem fand Hviid, daß in Kiel “Tyskheden”, das Deutsche oder Deutschtümelnde zu- und der (gesamtstaatliche) Patriotismus abnehme. Cramer schrieb eine scharfe Entgegnung, die einen Auftakt zur Holger Danske-Fehde bildet. Er kritisiert u. a. Hviids Deutschkenntnisse und seine “pöbelhafte Unverschämtheit” gegenüber den Deutschen, vor allem hebt er hervor, daß die Monarchie eine “zwiefache Nation” ist. Als Sohn des zum Klopstockkreis gehörenden Hofpredigers J. A. Cramer war C. F. Cramer in Kopenhagen aufgewachsen, beherrschte beide Sprachen und hatte u. a. auch Ewalds Rolf Krage 1772 und Die Fischer 1780 übersetzt. Er war in Kiel Professor für orientalische Sprachen geworden – und mußte übrigens wie sein Widersacher P. A. Heiberg auch wegen Sympathien für die Französische Revolution das Land verlassen und starb wie dieser in ParisIX.
Cramer hatte in seiner Holger Danske- Übersetzung die dänische Sprache gelobt, die Kopenhagener Kritiker warfen ihm in polemischer Absicht vor, ein Verächter und schlechter Kenner dieser Sprache zu sein. Baggesen will Cramer gegen diesen Vorwurf in Schutz nehmen – und tut es wiederum launighumoristisch, indem er ihn die Ehre der Sprache einem Deutschen gegenüber siegreich verteidigen läßtX.
Holstein war ein Teil des dänische Gesamtstaates- und kulturell natürlich deutsch. Norddeutschland hat in Baggesens Reisebeschreibung keine scharfen Grenzen nach dem dänischen Gesamtstaat; im dänischen Altona wohnt das Mitglied des früheren Kopenhagener Kreises Wilhelm von Gerstenberg, im dänischen Wandsbeck lebt Matthias Claudius. Man fährt leicht nach Eutin, wo Johann Heinrich Voß lebt- und Baggesen besucht sie alle und berichtet ausführlich davon. Über Lüneburg, wo die Eltern des Kapellmeisters Schulz leben, fährt er nach Celle, von dem es heißt: “Es ist für den Patriotisms nicht vortheilhaft”, sagte ich bey mir selbst, “daß alle Dänen, die auswärtige Reisen machen, durch Celle kommen müssen.” (4,62) Die 1775 verstorbene dänische Königin Caroline Mathilde, die nach dem Sturz ihres Liebhabers Struensee dorthin verbannt wurde,nennt er: “Opfer der Liebe, Herrschsucht und Ränkerey! Verführte, gemißhandelte, getödtete Unschuld! [ ... ] Nach hundert Jahren wird dein Glanz den Glanz von Johanna Gray, Maria von Stuart und selbst Maria von Moulins verdunkeln.” (4,66) Mehr konnte kaum über das tragische Schicksal der Gemahlin des noch formal regierenden geisteskranken Königs und die Mutter des real regierenden Kronprinzen gesagt werden.
Vor allen Dingen trifft der in diesem kulturellen Kontinuum reisende Däne in Hamburg Klopstock – und verheimlicht bei der Begegnung keineswegs die patriotische Problematik: die lebenslängliche dänische Unterstützung dieses deutschen Dichters war für die dänischen Intellektuellen der Hauptstadt ein Ärgernis geworden. Auch Baggesen ist kritisch: “Klopstock hat so viel Dänisch gelernt, daß er zur Nothdurft das Wenige, was er in dieser Sprache liest, verstehen kann. Da er aber solche Übung nur selten hat, und seit Evalds Zeit ihm kein dänisches Gedicht zu Augen oder Ohren gekommen ist; kennt er im Grunde überaus wenig von unserer Literatur [...] Ich leugne nicht, daß dieser Umstand in meinem Hinterkopf Betrachtungen erweckte [...] So kam es mir z. E. wunderlich, um nicht zu sagen unbillig vor, daß Klopstock, der vornehmlich von Dännemark lebt, nicht auf die geringste Weise weder in diesem Land oder für dieses Land lebt. [ ... ] Von allen Bedingungen bey Pensionen an Fremde, kommt mir keine natürlicher als die vor, daß sie (wofern nicht gewisse Umstände es entweder unmöglich oder unnöthig machen) verbunden seyn müssen, sich da aufzuhalten, wo ihr Brodt wächst. Der Cosmopolitismus ist eine schöne Sache, aber er hat seine Gränzen; er muß noch zur Zeit weder allgemein noch uneingeschränkt seyn; am wenigsten sind Regierungen verbunden, ihn zu übertreiben.” (3, 66 f) Soweit schließt Baggesen sich klar und deutlich der dänischen Kritik an; stellt auch bedauernd fest, daß Klopstock kein einziges Thema aus der dänischen Geschichte behandelt hat, und daß man vergeblich “in allen seinen unsterblichen Werken nach Spur von eigentlich. dänischer Begeisterung” sucht. Aber er fügt hinzu: “mit alle dem ist und bleybt es eine Sache, die meinem Geburtsland und seiner Regierung Ehre macht, daß Deutschlands Homer ihm sein Auskommen verdankt.” (3,69) Baggesen will nicht, daß Klopstock die Pension entzogen wird, sondern daß man ihn mit erhöhter Pension wieder nach Kopenhagen holt, der Hauptstadt der, wie Cramer schrieb, “zwiefachen Nation”.
Kehren wir zum Hermannsberg zurück, denn nun haben wir die Voraussetzungen, um Baggesens poetisch verunglückte Bergvisionen in ihrer Mischung von ekstatischer Panegyrik und versteckter Kritik zu verstehen. Er geht ja, wie wir gesehen haben, nicht nur von Klopstocks Bardieten aus, sondern geht in einer Zukunftsvision vielmehr so sehr über sie hinaus, daß er die blutige Schlacht zur Vorstufe der Kultur der Aufklärung umbaut und den deutschen Mythos zum kosmopolitischen umfunktioniert. Dagegen hätte der Kreis um den Herzog von Augustenburg, Schimmelmann und den jüngeren Bernstorff gewiß nichts einzuwenden. Dabei muß er sich nicht einmal direkt von Klopstock distanzieren, da dieser – allerdings ausgesprochen römer- und romfeindlich, deutsch und national – auch eine Entwicklungslinie germanischer Freiheit vom Hermannsberg über Luther bis zur ‘neufränkischen’, d.h. Französischen Revolution ziehtXI. Worin liegt die versteckte Kritik?
Auf den folgenden Seiten wird der Patriotismus auf sehr a-nationale Weise problematisiert, egal ob er deutsch oder dänisch, römisch oder franzosisch ist. Es gibt verschiedene Arten des Patriotismus bzw. mehr oder weniger dominante, immer vorhanden Seiten oder Schichten des Patriotismus:
1. Es gibt erstens einen “physischen Patriotismus”, eine “Erdschollen anhänglichkeit”, worin wir nach Baggesen von Grönländern, Irokesen und Kamtschadalen “sogar übertroffen werden.” Er ist ein “Hauptbestandtheil unsers thierischen Wesens” und “dieser Instinct nach der Heimath” kann nicht gemeint sein, wenn man “den aufgeklärten Patrioten eines cultivierten Staates characterisiren will”. (4,194f ).
2. Zweitens gibt es den Patriotismus der Griechen und Römer, “das ausschließende Selbstgefühl eines oberherrlichen Nationalstolzes”, den sie gegenüber den Barbaren empfanden. Dieser Stolz kann, wenn überhaupt, nur dem Europäer gegenüber den außereuropäischen Völkern verziehen werden. Aber: “Es würde lächerlich seyn, wenn ein Deutscher, ein Franzose, ein Engländer, ein Däne, oder ein Holländer, auf die ihn umgebenden Nationen, wie ein Schulmeister auf seine Knaben [...] herabsehen wollte.” (4,195) Ein ständiges Thema der Kopenhagener ‘Deutschenfehde’, vgl. Anmerkung 6, war gerade der deutsche Anspruch eines kulturellen Vorsprungs, der mit der These verbunden war, daß die Dänen ohne deutsche Nachhilfe sitzen bleiben würden.
3. Es gibt den “negativen Patriotism” (4,184), der andere Nationen herabsetzt – und hier flammt Baggesens Wut auf, denn dieser Patriotismus bedroht ihn und seine kulturelle Umwelt. Er sei das Produkt einer kleinen Gruppe von “Nationalgiftmischern” und “Feinden des Tages” (4,189), die bald nicht mehr sein werden, denn “Sprachenhaß” und “Nationalhaß” werden vor der Sonne der Aufklärung verschwinden. Er belegt diese Feinde der Aufklärung mit biblischen Bannsprüchen, weil sie blasphemisch die höchste irdische Majestät beleidigt haben: die des Volkes. “Weh! dem unsinnigen Gotteslästerer, der die
zwey Sylben: Däne, zuerst im Tone des Racha aussprach, der ihnen zuerst einen Platz der Schmach auf dem Papier anwies. Aber auch wehe den unsinnigen Gotteslästerern, welche zuerst den Schimpfton angaben, mit welchem der Name Deutscher auf gewissen Lippen und in gewissen Blättern klingt.” (4,184 f), vgl. Matth. 5,22. Baggesen denkt hierbei natürlich in erster Linie an die ‘nationale’ dänische Kritik an seinem Libretto, aber bemüht sich um Überparteilichkeit.
4. Schließlich gibt es den positiven Patriotismus, der “in raisonnierter Bürgertugend” besteht, eine philanthropische Haltung, die für Baggesen notwendigerweise in Kosmopolitismus, in Weltbürgertum mündet, weil Liebe und Achtung unter Nachbarvölkern so natürlich ist wie Liebe und Achtung vor dem Nächsten. Er redet seinen aufgeregten Landsleuten ins Gewissen: Wenn auch seit Erik von Pommern viel deutsche Spreu über die dänische Grenze geflogen ist, so auch manches herrliches Korn aus dem Land, dem Europa die Buchdruckerkunst und die Reformation der Religion und der Philosophie verdankt. Und schließlich erinnert Baggesen an die 1788 erfolgte “Bauern befreiung”, die Aufhebung der Erbuntertänigkeit, die gegen den Willen der Vertreter des dänischen Adels, aber vor allen von den Bernstorff und Reventlow vorbereitet und vorangetrieben worden war.
Der positive Patriotismus geht also in Kosmopolitismus über – mit diesem Modell versucht Baggesen die Kopenhagener nationalen Spannungen aufzuheben und zwei Positionen zu verbinden. In der deutschen Diskussion konnte Kosmopolitismus teils positiv und defensiv wie bei WielandXII, teils negativ und polemisch wie bei HerderXIII umschrieben werden. Die Sturm und Drang-Generation schätzte ohne Zweifel den von Baggesen in seiner Typologie als “physisch” oder “thierisch” eingestuften Patriotismus weit positiver als naturgegebene Verbundenheit, unreflektiertes Zugehörigkeits gefühl ein, aber Baggesens Kosmopolit ähnelt keineswegs dem bloß vernünftigen Weltbürger Herders.
Die Nationen sieht Baggesen als Töne einer Skala, als Farben des Regenbogens – alle sind in ihrer Verschiedenheit um des Kunstwerks willen nötig. Wie Herder in Auch eine Philosophie der Geschichte beschreibt er die Geschichte als ein Drama, in dem die Nationen ihre unterschiedlichen Rollen spielen. Erst am Ende weiß man, welche Rolle die wichtigste war. Und wie sieht Baggesen dies Ende? Keineswegs wie ein kühler Kosmopolit, sondern schwärmerisch als eine kosmische, von Vernunft und Tugend geforderte, von der Vorsehung gewollte Verbrüderung, ja Verschmelzung: “Ich war nun nicht länger Nationalsclav – Ich war Deutscher, ich war Franke [d.i. Franzose, SAJ], ich war Britte, ich war Belgier, ich war Schweizer, ich war Scandinavier [ ... ] Nur drey Bande – aber die eben so unzerreißbar als schön, knüpfen mein Wesen dichter und fester an Dänemark: Freundschaft – die Sprache, – und das Andenken an meine Kindheit.” (4,192)
Mit diesen Worten bekennt Baggesen sich zu den ‘empfindsamen’ Werten des Jahrhunderts, zum Freundschaftskult, zur neuentdeckten Kindheit und zur Muttersprache, ohne sein Weltbürgertum zu verleugnen. Das Weltbürgertum der Vernunft erfährt vielmehr eine mystische Erhöhung am Ende der Zeiten, wird millenarisch: “Was zuerst blos die Hütte der Väter war, wird Geburtsstädte; was die Geburtsstädte war, Heimathsprovinz, die Provinz Vaterland, das Vaterland der cultivirte Welttheil (Europa) : zur Heimath wird zuletzt die ganze Erde und einst …... Wer sich als Bürger im Reiche der Vernunft denkt, wer sich unter diesen Character zu denken vermag, ohne in seinem kleineren Kreise gestört zu werden, der ahnde seine letzte Heimath! Ich nenne sie nicht.”
(4,196)
Seine jetzige Heimat kennt und nennt er aber deutlich genug. Nach den “Cosmopolitischen Ausschweifungen” bekennt er sich zum dänisch-norddeutschen Kulturraum und will an der Hermanngestalt das Nationale zum Nordischen, zum Transalpinen abschwächen oder erweitern. Baggesen ruft erlöst aus: “Nirgends hatt’ ich bisher freyer, mehr als Bürger aus Norden, mehr als Bruder der großen Familie diesseits der Alpenkette gefühlt, als hier auf dem Gipfel des alten Cheruskerforstes; hier, wo die Gewalt des Südens zum erstenmal unter der Kraft des Norden erlag. Ich sah in Hermanns Andenken die Geburt der Freyheit Europa’ s”. (4,193) – eine zweite Geburt ist die Reformation, eine dritte die ‘neufränkische’, Französische Revolution.
Nach diesem Durchbruch kann er sich dem Süden zuwenden und seine empfindsame Reise fortsetzen, auf welcher er allerlei sehr ‘humoristisch’ erlebt. Unter dem Schutz von Sankt Pantaleon kann sich der Protestant während einer Rosenkranzandacht in den hübschen Fuß eines katholischen Mädchens verlieben; der Philanthrop kann mit Grauen und Empörung die Judengasse in Frankfurt schildern und über den “christlichen Vatermord” reflektieren. Der Anhänger der Venus Urania, der himmlischen, auf Erden nicht zu realisierenden Liebe kann schließlich das platonische Verhältnis zu Frau Pram in Kopenhagen lösen, der soziale Aufsteiger aus der dänischen Provinz als international bekannter Dichter die Enkelin des großen Haller als Braut heimführen; der Freund des Prinzen konnte a la Rousseau für die einfache Natur schwärmen und auf den Ruinen der Bastille tanzen, um einige weitere highlights dieser Reiseschilderung zu nennen, die künstlerisch gelungener sind als das Kapitel über den Hermannsberg.
Ideologiegeschichtlich bzw. mentalitätsgeschichtlich ist dieses Kapitel aber aufschlußreich und enthüllt die geschichtlichen Widersprüche, die er auszutragen hatte und die politisch schon das Ende des Gesamtstaates ankündigten. Es waren Widersprüche, die nicht aufgehoben werden konnten, denn obwohl Baggesen der bessere Dichter war und seine kosmopolitische Position mit den besseren Argumenten vertrat, mußte er an das neue Nationalgefühl des 19. Jahrhunderts verlieren. Er distanzierte sich in seiner Reiseschilderung von dem Nationalismus seiner dänischen Kritiker in Kopenhagen und – verdeckter – von dem nationalen Bardenturn Klopstocks, der immer noch die Unterstützung der dänischen Regierung und der deutschen Kreise in Kopenhagen genoß. Wenn Baggesen auch den “instinktiven Patriotismus” durch eine schwärmerische Vernunftsutopie ersetzen wollte, mußte er doch gleichzeitig zugeben, daß er natürlich auch selber teil an dem unreflektierten Gefühl hatte und es nicht unterdrücken konnte: Als er sich nach der langen Reise durch Europa der Grenze seines Vaterlandes näherte, wollte der Freiheitsenthusiast, wie er seiner schweizerischen Frau vertraute, lieber als freier Bürger in Frankreich oder in der Schweiz als Untertan in dem absolutistisch regierten Dänemark leben. Als er aber die holsteinische Grenze, die Grenze des Gesamtstaates passierte, wurde ihm die angestammte Monarchie wieder teurer als alle Freiheitsideen, sein Puls schlägt rascher, ein Feuer flammt durch seinen Körper. Vergessen sind die republikanischen Alpen und die Bastille, die Heimat mit ihrer dänisch-deutschen Kultur hat ihn wieder. Er ist, schreibt er, wie neugeboren.
Ein Dichter der folgenden Generation und ebenfalls Bürger eines multinationalen Staates, Franz Grillparzer (1791-1872) meinte vor dem Hintergrund des 19. Jahrhunderts, die Menschen gelangten von Humanität über Nationalität zur Bestialität. Baggesen hätte ihm beigepflichtet. Seine forcierte Vision blieb aber eine Illusion, die Zeit des Nationalen begann erst recht und entfaltete ihr Gutes und Böses. Um 1800 fing das ‘goldenen Zeitalter’ der dänischen Literatur, fing eine nationale Romantik mit Oehlenschläger, Grundtvig und Ingemann an. Die bedenklichen Seiten dieser Blütezeit traten erst später deutlich hervor und wurden von Kierkegaard und Brandes schonungslos kritisiert. Und Baggesens Furcht vor dem “negativen Patriotismus” war nur zu sehr berechtigt: Der deutsche und dänische Nationalliberalismus machten 1864 aus dem multinationalen Gesamtstaat einen kleinen Nationalstaat, aus den deutsch und dänisch gesinnten Bürgern des Herzogtums Schleswig preußische Untertanen.
Baggesen selbst hat den Verlust der dänischen Flotte und Norwegens und damit den Anfang vom Ende des Gesamtstaates erlebt und beweint – aber aus halber Ferne. Er vermachte in einem sinnbildlichen Auftritt dem dänischen NationaIromantiker Oehlenschäger seine dänische Harfe – sein Erfolg als kosmopolitischer und deutschschreibender Dichter war – mit dem dänischen verglichen – mäßig. Baggesen wetterte vergeblich gegen die deutsche Romantik und blieb ein ruheloses Kind des 18. Jahrhunderts, ein empfindsamer Reisender, der immer wieder auszog, in Europa zu Hause war, in der Kopenhagener Provinz jedoch – trotz mehrerer Versuche – nicht mehr heimisch werden konnte.
Sidst opdateret 11.05.2017
[Note von Sven-Aage Jørgensen]:
Labyrinthen, 1-2, Kopenhagen 1792; deutsch: Baggesens Professors in Kopenhagen Humoristische Reisen durch Dännemark Deutschland und die Schweiz. übersetzung aus Baggesens Labyrinth Von C. F. Cramer, 1-5, Altona, Leipzig 1793-95. Es wird zitiert nach einem mir zugänglichen Exemplar (Signatur 28,101-8) der Königlichen Bibliothek Kopenhagen. Buch 1 entstammt der Erstauflage, 2,3, 4 und 5 der zweiten Auflage 1801. Band 1 enthält ein “Avantpropos der Übersetzung”, worin C. F. Cramer seine Rolle bzw. Schildknappendienste in der ‘HolgerFehde’ und Baggesens Unwillen über seinen Übereifer erläutert. Cramer hat die Ausgabe mit”. Anmerkungen, Zusätzen, Einschaltungen, sogar Emendationen und Castigationen” (1,11) versehen und sie mit lateinischer Schrift kenntlich gemacht.
[Note von Sven-Aage Jørgensen]:
Arminius. Ein Trauerspiel, Hannover 1749. Zit. nach: Irmtraut Sahmland: Wieland zwischen Patriotismus, Kosmopolitismus und Griechentum, Tübingen 1990, S.133.
[Note von Sven-Aage Jørgensen]:
Klopstocks sämmtliche Werke, B.4, S. 216, Leipzig 1839.
[Note von Sven-Aage Jørgensen]:
Wieland hatte in seinen “Zusätzen” Wenn sie fortfahren die Teutschen des achtzehnten Jahrhunderts für Enkel Tuiskons anzusehen (1773) zum Aufsatz ”Der Eifer, unsrer Dichtkunst einen National-Charakterzu geben etc. davor gewarnt, “die Sprache Hermanns mit uns zu reden, und uns die die Gesinnungen der alten Catten und Hermundurer einflößen zu wollen. Den unbändigen Enthusiasmus für eine Art von Freiheit, die wir zu unserem Glücke längst verloren haben, den kriegerischen, blutdurstenden Geist und die patriotische Wut dieser alten Barbaren durch die Magie der Dichtkunst verschönern und zu Tugend und Heldentum adeln, heißt einen Gebrauch von dieser edeln Kunst machen, der bei allem, was er Blendendes hat, nicht weniger gefährlich ist als wenn sie zum Werkzeug der Üppigkeit und ausschweifender Lüste mißbraucht wird.” Zit. nach: Christoph Martin Wieland. Werke. Hrsg. von Fritz Martini und Hans Werner Seiffert, Bd. 3, München 1967, S. 273.
[Note von Sven-Aage Jørgensen]:
Vgl. S.8.
[Note von Sven-Aage Jørgensen]:
“Nur um innerlichen allgemeinen Wohlstand durch eine größere Tätigkeit auszubreiten, setzte Bernstorff alle Kräfte der Nation in Bewegung. Darum hat er verjährten Vorurteilen getrotzt und dem Dank seiner Zeitgenossen entsagt; darum rief er Fremde nach Dänemark und belohnte ihre Talente mit Großmut. Wer diese Handlungsart tadelt, überlegt nicht, daß eine allzufrühe Selbstgenügsamkeit, Wie der Aberglaube, an die Mittelmäßigkeit fesselt, daß es einerlei ist, ob man die Künste des Ketzers verabscheut oder die Erfindungen des Fremden verachtet, daß ein kluges Volk Weisheit holt, wo man sie findet, und sich nicht schämt zu lernen, wenn es den Mut fühlt, seine Lehrer zu erreichen.” Zit. nach H. P. S.: Die Reise nach dem Deister. Prosa und Briefe. Hrsg. Karl Wolfgang Becker. Berlin (Ost) 1976, S. 93f.
[Note von Sven-Aage Jørgensen]:
Vgl. hierzu Ole Feldbæk: Skole og identitet 1789-1848. Lovgivning og lærebøger, in Ole Feldbæk (ed.): Dansk identitetshistorie, Bd. 2, Kopenhagen 1991, S. 291 ff. Feldbeck behandelt das in viele europäische Sprachen übersetzte Werk Ove Mallings Store og gode Handlinger af Danske, Norske og Holstenere (1777), das die Tugenden des guten, aufgeklärten Untertanen an beispielhaften Handlungen der Einwohner des Gesamtstaates aufzeigt, und beschreibt auch den Druck, den der ursprünglich sehr national dänisch argumentierende Høegh-Guldberg auf den Freund P. F. Suhm ausübte, der seine Geschichte Dänemarks, Norwegens und Holsteins (1776) nun aus gesamtstaatlicher Perspektive zu schreiben hatte. Eine kürzere deutsch geschriebene Darstellung dieser Probleme enthält der Aufsatz Dänisch und Deutsch in dänischem Gesamtstaat im Zeitalter der Aufklärung von Ole Feldbæk in: Klaus Bohnen und Sven-Aage Jørgensen (ed.): Der dänische Gesamtstaat. Kopenhagen, Kiel, Altona, Tübingen 1992, S.16-19.
[Note von Sven-Aage Jørgensen]:
Zuletzt ausführlich beschrieben und analysiert von Ole Feldbæk og Vibeke Winge in Tyskerfejden 1789-1790. Den første nationale konfrontation. In: Ole Feldbæk (ed.): Dansk identitetshistorie; Bd. 2, S. 9-110. Zit. Tyskerfejden. Vgl. auch im selben Band S. 110-149 Vibeke Winge: Dansk og tysk 1790-1848.
[Note von Sven-Aage Jørgensen]:
Vgl. Tyskerfejden, S. 17ff.
[Note von Sven-Aage Jørgensen]:
In Lübeck trifft Baggesen den ersten “Deutschen, unter allen, die ich bisher gekannt”, der die dänische Sprache verachtet und mit einer auch heute oft gehörten Kritik Baggesen mundtot macht. Dieser fragt nämlich, was der Lübecker denn “gegen ihren Reichthum, ihre Fruchtschwere und Schönheit einzuwenden hätte.“Alles”, entgegnete er, “ [ ... ] Erstlich: daß sie eine zu große Ähnlichkeit mit der Thiersprache hat, indem ihr alle Articulation mangelt.” In dieser bedrängten Lage greift Cramer ein, gewinnt die Schlacht, und “wirklich wärs zu wünschen, jeder deutsche General möchte mit ähnlichem Glück dänische Truppen anführen. Ich sah mit innigem Vergnügen der Niederlage zu; ob ich gleich selbst keinen Theil am Siegen hatte. Aber, was meine Eigenliebe bey letzterem verlohr, gewann mein Patriotismus wieder durch ersteres. Der Friedenscontract ward in Eutinschem Bier geschlossen. Ich erfuhr bey dieser Gelegenheit, es gebe Deutsche, die von Dänischen despectirlich denken; ich mußte aber auch gestehn, man finde Dänen, die vom Deutschen das Nämliche thun – und beyde Mißverständnisse mögen denn gegen einander aufgehen”. (2,165)
[Note von Sven-Aage Jørgensen]:
Wesentlich skeptischer und viel früher hatte Sturz, obwohl er dem Kopenhagener Kreis angehört hatte, seine Zweifel an dem germanischnationalen Bardenturn und an dem Anspruch angemeldet, mit ihm einer deutschen Freiheitstradition Ausdruck zu verleihen. Sein Aufsatz Über den Vaterlandsstolz enthält eine direkte Anspielung auf die mythisch kaschierten Widersprüche der Position Klopstocks:
“Du bist ein Deutscher. Wohlan, sei stolz auf deinen Hermann, auf den Helden Friedrich, auf Katharina, die Wohltäterin der Menschen! Nenne Leibniz, Klopstock und Lessing der Nachwelt! [ ... ] Dennoch laßt uns gerecht sein und nicht vergessen, daß kaum vor dreißig Jahren noch Gottsched der deutsche Addison war, daß itzt noch Laune, Witz und Grazie im deutschen Boden nur mühsam gedeihen, und daß Vaterland und Freiheit in unsrer Sprache nicht viel mehr als Töne ohne Meinung sind. [ ... ] Sprich den Fürsten nicht hohn,
freiheittrunkener Jüngling, der du vielleicht als Mann zu ihren Füßen kniest! Und sie verdienen auch deinen Bardeneifer nicht, denn viele unter ihnen sind freundlich und gut und verleihen selbst den Fürstenhassern Brot. Aber träume nicht von Freiheit, solange noch an jedem Hofe jeder Laut des Muts verstummt, solang unser Eigentum nur von einer Schatzverordnung zur anderen sicher ist, solang unser Blut eine Lands- und Domänenware bleibt.” Erstveröffentlichung Deutsches Museum, Mai 1776. Zit. nach Die Reise nach dem Deister, S. 177.
[Note von Sven-Aage Jørgensen]:
In dem fast gleichzeitigen Aufsatz Das Geheimnis des Kosmopolitenordens, den Wieland in seiner Zeitschrift Der Teutsche Merkur, Mai 1788, heißt es: “Die Kosmopoliten führen ihren Namen (Weltbürger) in der eigentlichsten und eminentesten Bedeutung. Sie betrachten alle Völker des Erdbodens als eben so viele Zweige einer einzigen Familie, und das Universum als einen Staat, worin sie mit unzähligen andern vernünftigen Wesen Bürger sind [ ... ] Er (der Kosmopolit, SAJ) meint es wohl mit seinem Volke, aber er meint es eben so wohl mit allen andern, und ist unfähig, den Wohlstand, den Ruhm, die Größe seines Vaterlandes auf absichtliche Übervorteilung und Unterdrückung anderer Staaten gründen zu wollen.” Christoph Martin Wieland. Werke, Bd. 3, S. 556 und 562.
[Note von Sven-Aage Jørgensen]:
Herder veröffentlichte 1774 Auch eine Philosophie der Geschichte, in der es satirisch heißt: “Bei uns sind Gottlob alle Nationalcharaktere ausgelöscht! wir lieben uns alle – oder vielmehr keiner bedarfs den andern zu lieben; wir gehen mit einander um, sind einander völlig gleich – gesittet, höflich, glückselig! haben zwar kein Vaterland, keine Unsern für die wir leben; aber sind Menschenfreunde und Weltbürger. Schon jetzt alle Regenten Europas, bald werden wir alle die französische Sprache reden! – und denn – Glückseligkeit! es fängt wieder die güldne Zeit an, “da hatte alle Welt einerlei Zunge und Sprache! wird eine Herde und ein Hirte werden”! Nationalcharaktere, wo seid ihr?-.” Zit. nach der Reclamausgabe, hrsg. von Hans Dietrich Irmscher (RUB 4460), Stuttgart 1990, S. 75.