This is a re-publication of the article: Paul Ortwin Rave: ‘Bertel Thorvaldsen. Zu seinem hundertsten Todestag am 24. März 1944’, in: Die Kunst im deutschen Reich, 8. Jahrgang / Folge 3, März 1944, p. 62-72.
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Als der Dänische Bildhauer Bertel Thorvaldsen vor einem Jahrhundert starb, wurde ein Lebenswerk abgeschlossen, das in seinem Wert und seiner Bedeutung noch von niemand angezweifelt war. Im Gegenteil, Thorvaldsen galt als der vollkommenste Erfüller eines Wunschtraumes, des Traumes von der Wiedergeburt der Antike, den die besten Deutschen der Goethezeit geweckt, genährt und gehegt haben. Die Schöpferkraft der Griechen sah man wieder verkörpert in diesem einzigen Manne aus dem hohen Norden, in diesem stillen blonden Dänen, dessen Voreltern noch im sagenfernen Island gelebt hatten.
Wir heute sehen freilich den Abstand. Wir wissen heute, daß die einmalige und unwiederbringliche Jugendzeit des Abendlandes als schöpferische Fülle, Dichte und Leidenschaft des Lebens in Hellas eben einmal und unwiederbringlich war und daß ein Bau oder Bild der besten griechischen Zeiten stets nicht nur anders aussieht und wirkt als alle Kunstwerke, die später geschaffen wurden, sondern auch tatsächlich etwas ganz anderes ist, etwas anderes darstellt und etwas anderes bedeutet. Gegen die Antike gehalten wirkt die Kunst um isso leichter und feiner, geglättet und ausgeschönt, sogar oft blaß und etwas müde. Und doch bemerken wir einen köstlichen Reiz in ihr und sehen in ihr etwas anderes und mehr als bloß Nachahmung der Alten.
Gewiß hat die Gestaltenwelt Thorvaldsens von der Antike her wesensmäßige Züge empfangen. Sie war nach der Norm eines Denkbildes ausgerichtet und gestrafft, locker gestrafft und geläutert, doch ohne eines vegetativen körperlichen Seine verlustig zu gehen. Vielmehr zeigen die besten seiner Figuren das naturgemäße Wachstum des Menschen und regen sich gleichsam richtig und natürlich, sind aber zugleich edler, schöner und in einem tiefen Sinn wahrer als die Natur geworden durch die Verwandlung ins »Lichte, Hohe, Stillbewegte«. Das ist die eigentliche Leistung des dänischen Meisters, mit der er eine bestimmte Stufe im Kunst- und Geistesleben Europas einnimmt, eine Stufe, die zwischen Goethes sehnsuchtserfüllter Versmelodik in Iphigenie auf Tauris und der kühlen Schönheitsleidenschaft der Iphigenienbilder Feuerbachs in der Mitte liegt, »das Land der Griechen mit der Seele suchend«.
Aber Thorvaldsen war nicht nur Sucher, sondern auch Finder, glücklicher Finder. Er war kein zwischen den Welten verstrickter und irrender Wanderer, sondern mit allen Sinnen und allen Fasern seines Herzens dem Diesseits zugewandt. Er war kein Verächter der mühsamen Arbeit, nicht wie mancher Romantiker zweifelnd, unerlöst, weltflüchtig, und zerbrach nicht wie manche tragische Natur am Gegensatz vom Wollen und Vollbringen, obwohl er seine Grenzen kannte, wie einige seiner Äußerungen über Kunst, seine Huldigungen an die großen ewigen Werte der Menschheit beweisen. Aber es ehrt den Mann, der trotzdem sein Werk schafft, so gut er es vermag. Thorvaldsens selbstverständliches, dem Diesseits zugewandtes Tun, sein männlich-schöpferisches Dasein ordnet sich vollkommen ein in das klassische Weltbild der Großen unserer Geisteswelt, die sich ihrem steten Tagewerk mit Sicherheit und Kraft und mit bewußter Ruhe gewidmet haben – eine Haltung, für die Goethe uns Deutschen ewig vorbildlich bleiben wird. Thorvaldsen, der größte »Idealist« im Gebiete der Kunst, hat, wie Goethe, voll »immer strebenden Bemühens« ein werktätiges Leben in der Wirklichkeit des Erreichbaren geführt, sachlich und »Realist«, naiv und stark im Glauben an sich und sein Tun. Und hat kraft dieses Glaubens den Weg zur Selbstvollendung gefunden, als Mensch und als Künstler. Das macht seinen Namen auch heute noch leuchten im Buch der Geschichte, das ist der Kranz seines Ruhmes, der nicht verwelkt, die Palme, die ihm hundert Jahre nach seinem Tode sicher ist.
Bertel Thorvaldsen war das einzige Kind seiner Eltern, von früh an seltsam versponnen, verträumt, auf sich bezogen und in sich gekehrt, langsam im Denken, schwerfällig im Lernen, schüchtern, scheu und still. Feststeht, daß er in Kopenhagen geboren wurde und nicht, wie man früher wohl annahm, auf Island oder gar während der Überfahrt auf dem Nordmeer, aber man weiß bis heute nicht genau wann, ob am 13. November 1768 oder etwa am 19. November 1770, wahrscheinlicher 1770. Seine Mutter war eine Bauerstochter aus Jütland, sein Vater ein Holzbildhauer, der auf den Kopenhagener Werften den Zierat für die Segler schnitzte, wobei ihm der junge Bertel half. Dieser wurde dann auch auf die Akademie geschickt, wo er seine Aufgaben ruhig und geduldig vor sich hinschaffte, gutmütig, langsam reifend und sehr nordisch. Schon zeichnete er sich aus, aber alles schien bei ihm seine Zeit zu fordern, da er wuchs wie eine Pflanze, halb wie im Traum, seiner Kräfte unbewußt, und sich entfaltend nach dem Gesetz der Stille, nach dem er angetreten. Doch den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. Er erhielt den Großen Rompreis und machte sich, ein hoffnungsvoller junger Mann Mitte der Zwanzig, auf die Reise. Eine dänische Fregatte brachte ihn nach Neapel. Vielleicht war diese erste Begegnung mit Italien bestimmend für sein ganzes Leben: es war nicht der malerische Zauber Venedigs, nicht der zeichnerische Reiz Toskanas, nicht die männliche Größe Roms, sondern die heiter lebendige und etwas verspielte Welt spätantiker Genien und Amoretten, die, aus ihren Gräbern aufflatternd, den versonnenen, schweigsamen Künstler fortan umgaben.
Das eigentliche Ziel der Reife war aber Rom. Wurde Thorvaldsen später nach seinem Geburtstag gefragt, pflegte er wohlgelaunt den 8. März 1797 zu nennen, den Tag seiner Ankunft. Auch an diesem Manne aus dem Norden hat sich die verwandelnde Kraft Roms bewährt, die geheimnisvolle Kraft, durch die der Blick der Menschen freier und weiter, der Atem größer, Herz und Sinne lebendiger, glücherfüllter, Geist und Seele dem Ewigen näher werden. »Der Schnee in meinen Augen beginnt zu schmelzen«, so drückte unser junger Künstler es bildhaft aus. Die ernste Welt der Antike ging ihm auf, Werke des Hohen Stils nach Winckelmanns Einteilung, und dies um so mehr, als er bald mit Carstens und Josef Anton Koch bekannt und befreundet wurde, die eine Erneuerung der Kunst und eine klare Grenzziehung erstrebten gegenüber dein Gestrigen, dem Äußerlichen, Gefälligen und allzu Hübschen eines Menge oder einer Angelika Kauffmann, gegen bloße Nachahmung und Verzärtlichung der Antike. Jetzt begann auch Thorvaldsen mit neuen künstlerischen Absichten hervorzutreten, indem er in Bildern reiner Unschuld und edler Gehaltenheit aus dem goldenen Zeitalter die Schau einer glücklichen Daseinsstufe der Menschheit zu gestalten versuchte. Als seine erste große Leistung entstand die überlebensgroße Figur eines antiken Helden mit mächtigen Gliedern, des Jason, des Führers der Argonauten, voller echter Hoheit, wahrlich ein Halbgott. Die Stimmung des Heroischen lag damals in der Luft, begünstigt durch den kriegerischen Glanz Napoleons. Wilhelm von Humboldt, der damals preußischer Gesandter in Rom war, schrieb über den Jason an Goethe und fand in der kräftigen harmonischen Gestalt eine Behandlung des heroischen Charakters, die ganz im antiken Sinne eine sehr glückliche Mitte zwischen der gewöhnlichen Natur und der eigentlichen Gottesgestalt halte. Noch treffender urteilt A.W. Schlegel, das Bild, das Thorvaldsen geschaffen, sei dem Pindar würdig und trage mit stolzer Unbekümmertheit jenes dem heroischen Zeitalter eigene Unbewußtsein der Größe und Vortrefflichkeit zur Schau. Dieser für die Beurteilung Thorvaldsens angeschlagene Ton der Bewunderung blieb maßgeblich für die folgenden Jahrzehnte. Alles, was der Däne nunmehr hervorbrachte, erschien den Mitlebenden eine schier unbegreifliche Offenbarung: Hellas blühte wieder auf, kraft jenes Zweiges der Kunst, der den Menschen als äußere Erscheinung zur Vollkommenheit steigert. Die Rückbesinnung auf die Antike war der Spiegel, in den man zu blicken wünschte, um das eigene Selbst in gereinigter Form wieder zu empfangen. In dieser Weise faßte man das Werk Thorvaldsens auf, und der Glaube an ihn entsprang einem so starken wie naiven Empfinden. Noch waren die verschiedenen Zersetzungserscheinungen des europäischen Geistes im 19. Jahrhundert nicht wirksam, die auflösende Ironie der Romantik, Nietzsches unzeitgemäße Fragestellungen und Umkehrungen der Werte oder des Kultur-Pessimismus in den weltgeschichtlichen Betrachtungen Jakob Burckhardts. Zweifellos ist unser Weltbild dadurch weiter und reicher geworden, aber zu überhören ist darin die Stimme jener klassischen Ideologie nicht, die ganz naiv aus der Antike eine neue Sinngebung des Daseins abzuleiten versuchte. Auch Thorvaldsen wuchs nun eindeutig und unbeirrbar in die große Aufgabe des abendländischen Humanismus der Goethe- und Humboldtzeit hinein. Auch sein Werk bedeutet einen Schritt auf dem Wege der Aufnahme, Weiterleitung und Umformung antiken Geistes und damit der ständigen und lebendigen Neuformung Europas.
Vielleicht zeigen Überlegungen dieser Art, wie sehr der dänische Bildhauer späterhin mißverstanden und sogar mißachtet werden konnte, so daß langehin kein Wort zu seiner günstigen Beurteilung vernommen worden ist. Dem Kunstfreund war der Weg zu ihm versperrt. Nachbildungen überschwemmten die Erde, Nachbildungen aller erdenklichen Art, die nicht ernst genommen werden konnten. Das Neckische wie das Frömmelnde wurde in einem und demselben Gipswarenkorb oder auf demselben Zierschränkchen gesehen, das Gefällige ward verniedlicht, das echte Idyll versüßlicht, das Gute verflacht und verödet. Was noch zu Thorvaldsens Lebzeiten von den hohen, ja höchsten Begriffen und Vorstellungen des deutschen Idealismus gezehrt hatte, war eine Generation nach ihm aufgebraucht, abgegriffen und ausgeleiert, bestenfalls verblasene Poesie, im Grunde Gipskram und Hausgreuel. Auch wer dem Künstler in seiner Heimatstadt Kopenhagen begegnete, konnte enttäuscht werden. Die feierliche Kühle der Frauenkirche vermochte nicht eben zu erwärmen und barg überdies Werke, die keineswegs den ersten Rang in Thorvaldsens Schaffen einnehmen, zumal die berühmte, allzu berühmte, schlichte, vielleicht allzu schlichte und evangelisch milde Christusfigur. In Thorvaldsens Museum konnte man leicht durch die Menge der Gipsmodelle mehr erschreckt als angelockt werden. Erst wenn man vereinzelte wirklich originale Werke seiner Meisterhand sah, wurde man eines Besseren belehrt, und was dem einen noch glatt, weichlich, flau, leer, öde, süßlich oder langweilig erschien, vermochte sich dem kundigen Blick und der eingehenden Betrachtung als Schmelz und Zartheit, Adel und Haltung zu enthüllen. Eine Ahnung steigt auf von dem, was Thorvaldsen als Ziel seines künstlerischen Wirkens erstrebte und was die Zeitgenossen in seinem Werke erfüllt fanden: Anmut und Würde, Schönheit und Blüte der menschlichen Gestalt sichtbar werden zu lassen.
Die klassische Ideologie sah, bis auf ihren Vollender Wilhelm von Humboldt, ihr Wunschbild in einem reinen und vorbildlichen Menschentum, sie glaubte dies ein einziges Mal bei den Griechen verwirklicht und wollte es der Menschheit der Zukunft wieder gewinnen. Wie bei den heißblütigen Griechen sollten Leidenschaft und Erregung, Sinnlichkeit und Seele wieder in den geformten Stein, in die starre Marmorkühle der Bildsäule gebändigt und somit dem Ewigen anverwandelt werden. Darum war die Welt vor hundert Jahren beim Tode Thorvaldsens so ergriffen wie bei dem Tode eines Fürsten. Er hatte in den Augen seiner Zeitgenossen eine Leistung vollbracht wie kein zweiter, er war der Erfüller einer allgemeinen Sehnsucht, der Vollstrecker des größten Wunschbildes geworden. Er hatte das Ideal anschaulich und greifbar gemacht, das bis dahin nur als Traum und als Forderung der Dichter und Denker bestand. Seine Gestaltenwelt hatte die Würde des Menschen wieder hergestellt. Seine Gestalten waren von ihrer eigenen Körperlichkeit erfüllt, ohne seelische Leidenschaft und fahrige Bewegung wie noch kurz zuvor im Barock und Rokoko und im romanischen Klassizismus eines Canova. Sie blühten gleichsam auf, rein, edel, still, in sich selbst genügsam, standen in freier, so zarter wie sicherer Regung ihrer Glieder, in schönster Selbstdarstellung ihres Wuchses. Sie trafen haargenau ein Körpergefühl, das sich ebenso weit von der verzierlichten, lüsternen und vergeistigten Haltung der Zeit vorher wie von der muffigen Spießigkeit des Biedermeier entfernt hielt, und schienen vielmehr in der unschuldigen adligen Nacktheit ein wiedergewonnenes goldenes Zeitalter der Griechenheit vorzutäuschen.
Thorvaldsen war nicht nur einer der naivsten Künstler, sondern fast hemmungslos in seinem Schaffen. Seiner Werke Zahl ist Legion, und es findet sich in der Tat manches Mittelmäßige und Unerfreuliche darunter. Aber darum geht es hier nicht. Es geht um die Rechtfertigung seines Lebens, um die Deutung seines Wirkens aus dem Kraftstrom der geistigen Erneuerung durch die deutsche Klassik, aus der für unser Geistesleben so fruchtbaren Berührung germanisch-nordischer Wesensart mit dem Süden, der Antike. Immer hat die germanische Mitte Europas ihre Lotung gesucht und ihre kulturelle Nordsüdachse gefunden. Eines der erregendsten Beispiele bleibt der deutsche Humanismus der Goethezeit, in der Dichtung wie in der Kunst vom Samen der Antike befruchtet, nicht als Nachahmung, sondern als Nachfolge, als schöpferische Leistung. Thorvaldsen, der Däne, wäre nicht geworden, was er wurde, ohne Rom, ohne das Rom der deutschen Klassik, in das er, noch vor 1800, als ein Jüngling eintrat, und das er als Greis verließ, um in seiner Vaterstadt zu sterben.
Last updated 16.01.2018